Fortsetzung und Analyse:
Das vierte Siebtel der Aphorismen geht auf die höchsten Geheimnisse ein. Zuerst was ein Geheimnis sei (XXII.) und von welcher Natur es sei (XXIII.). Dann listet er die sieben höchsten Geheimnisse auf: Heilung durch Magie, Unsterblichkeit, Macht über die Elemente, Kontakt zu den Unsichtbaren, Selbsterkenntnis, Erkenntnis der Gottheit, Wiedergeboren zu werden wie Enoch. Die mittleren Geheimnisse seien: Transmutation der Metalle, Heilung durch Alchemie, Wunder durch die Sterne, natürliche Magie, Hellsicht, Kenntnis aller Künste, Kenntnis aller geistigen Kräfte. Die sieben geringeren Geheimnisse seien: Reichtum, Ehre, Heldentum, Sparsamkeit, Handelskunst, Philosophie, Theologie. Anschließend eröffnet Anonymus den Weg zum Geheimnis: Den Weg zu Gott zu suchen und auf seine Gnade zu vertrauen, sowie die Geister anzurufen (XXV.). Wobei die Geheimnisse auch durch das Mittel des Traumes erlangt werden können, oder auch durch Arbeit. Weiterhin distanziert sich der Autor deutlich von allen „Teufelszauberern“ (XXVI.). Anschließend beschreibt er eine Möglichkeit der Visualisierung der Geheimnisse (XXVII.). Dennoch ist natürlich alles ohne das Gebet zu Gott vergebens (XXVIII.).
Das fünfte Siebtel der Aphorismen kommt „[…] nachdem die allgemeinen Regeln und Vorschriften vorausgeschickt sind, an die besonderen Erklärung“.[1] Da alle Geister die Diener Gottes seien, solle sich jeder prüfen, wie es um seine Motivation bestellt sei (XXIX.). Auch Reichtum, Glanz, Ämter und Würden sind für den fleißigen Magier erreichbar (XXX.). Wenn man sich einen Engelfürsten untertänig mache, wird es geschehen, wie man befiehlt (XXXI.). So haben sich auch die Römer zu den Herren der Welt erhoben (XXXII.). Will man aber kein Amt erhalten, sondern nur Reichtum, so rufe man den Fürsten des Reichtums und spezifiziere genau in welcher Form der Reichtum einem zukommen soll (XXXIII.). Doch ist viel über die rechte Zitation der Geister in Vergessenheit geraten (XXXIV.). Da der menschliche Geist als einziger die Möglichkeit der Vollkommenheit in sich trage, lasse man sich von den Geistern nicht betrügen, als dass man ihr Diener werden, sondern vertraue immer auf die Gottheit, auf dass man in seinem Weg treu sei (XXXV.).[2]
Das sechste Siebentel der Aphorismen gibt einige Ratschläge zur magischen Praxis. So empfiehlt es sich, immer nur ein Ziel zur gleichen Zeit zu verfolgen und sich nicht zu verzetteln (XXXVI.). Weiterhin machen Ordnung, Weise und Maß die Künste des Sichtbaren und Unsichtbaren leicht, weshalb sie den Mächten des Lichts zuzuordnen seien (XXXVII.). Entsprechend sei die Magie in sieben Einteilungen zu ordnen: So z.B. in die Magie des Lichtes und in die Magie der Finsternis. Weiterhin in die Vollziehung der magischen Wirkungen mit sichtbaren oder mit unsichtbaren Instrumenten.[3] Auch kann man die Magie teilen in die Magie der Anrufung Gottes und der Anrufung der Geister. Dann die Magie mithilfe der Engel und mithilfe der bösen Geister. Weiterhin durch den Verkehr mit den Geistern von Angesicht zu Angesicht, im Gegensatz zu Traumdivination o.ä. Auch kann man entweder mit Intelligenzen oder mit den Wesen der Elemente arbeiten. Zuletzt, dass die beste Magie von Gott komme (XXXVIII.). Die sieben Erfordernisse, um die Magie zu erlernen sind: das Streben nach der Erkenntnis Gottes; das Streben nach Selbsterkenntnis; mit dem unsterblichen Seelenteil Gott zu dienen, mit dem sterblichen aber den Menschen. Weiterhin festzustellen, ob man zur Magie geboren sei; Achtsamkeit ob der Unterstützung durch die Geister; Treue und Verschwiegenheit; sowie Gerechtigkeit (XXXIX.). Die sieben Verhaltensregeln, wenn man ein unkörperliches Agens verspürt: nach der Vollkommenheit in der Magie zu streben; um ein reines Herz zu bitten; zu experimentieren; frei zu sein vom Aberglauben und Zauberei; Abgötterei zu vermeiden; den Teufel zu fliehen; die göttlichen Gaben in uns auszubilden (XL.). Ein Magier sei derjenige, dem aus göttlicher Gnade die geistigen Wesen dienen zur Erkenntnis der ganzen Welt, wohingegen ein Zauberer derjenige ist, dem aus göttlicher Zulassung die bösen Geister dienen, um die Menschen von Gott abzuwenden (XLI.). Nochmals betont der Autor, dass ein Magier zu diesem Werk geboren sein soll, auch wenn er nicht in Abrede ziehen will, dass auch durch Fleiß und Übung vieles in der Magie erreicht werden kann (XLII.).[4]
Das siebente Siebtel der Aphorismen gibt dem Magier einige letzte Ermahnungen auf den Weg. Man sei sich der Macht der Geister bewusst, und habe acht vor den Werken der satanischen Magier (XLIII.). Magier sein, heißt zu erwachen (da ich den nächsten Abschnitt für sehr wichtig halte, soll er an dieser Stelle komplett wiedergegeben werden – Anm. des Autors):
„Der Übergang von dem gemeinen Leben der Menschen zu einem magischen Leben ist nichts anderes, denn ein Übergang von einem schlafenden Leben zu einem wachenden. Was in dem gemeinen Leben dem Menschen unwissend und ohne Erkenntnis widerfährt, das widerfährt den Magiern mit ihrem Wissen und Willen. Ein Magier weiß es, wenn sein Geist von sich selbst denkt, ratschlagt, sinnt, beschließt und sich vornimmt, etwas zu tun. Er merkt es auch, wenn seine Gedanken, von einem ihm beistehenden geistigen Wesen her fließen, und er erforscht, aus welcher Ordnung dieses geistige Wesen sei. Aber ein Mensch, der in der Magie unerfahren ist, wird wie ein Tier von den Leidenschaften und Bewegungen des Gemüts hin und her getrieben, von seinen eigenen Gedanken sowohl, als auch von denen, die von Geistern seinem Gemüt eingegeben werden, und weiß nicht, wie er durch das Wort Gottes, die Anschläge der Feinde zunichtemachen und vor den Nachstellungen des Versuchers sich schützen soll.“ (XLIV.)
Man wäge genau ab, was man von den Geistern annehme und was nicht, und hüte sich vor der Gier (XLV.). Der Magier achte auf sein Gemüt, denn er zieht genau die Geister an, die seinem Charakter entsprechen (XLVI.). Wer also in seinem Berufe sich auszeichnet, dem helfen ebenso fleißige Geister bei seinen magischen Werken, wer aber nur zuhause sitzt, dem werde auch keine Geister Reichtum verschaffen, usw. (XLVII.). Eine jede Magie ist eine Offenbarung derjenigen Geister, von deren Art die Magie ist, die immer wieder in ihren Ursprung zurück kehrt (XLVIII.). Die Einleitung wird geschlossen mit einer Erinnerung an das Gesagte, um die Magie immer mit reinem Herzen anzugehen, denn je höher der Magier steigt, umso tiefer wird der Fall werden, so er seine Wacht aufgibt (XLIX.).
Analyse der Aphorismen
Die obige Zusammenfassung des Arbatel zeigt viele Parallelen zur heutigen okkulten Literatur. Vor allem die Autoren vieler Werke aus den 50er Jahren des 20. Jh. beziehen ähnliche Konzepte wie der Autor des Arbatel in ihre Werke mit ein. So finden sich z.B. über die Vorbereitung zur Evokation, sowie Umgang mit den Wesenheiten anderer Sphären gerade in Franz Bardons Werken Der Weg zum wahren Adepten und Die Praxis der magischen Evokation ähnliche oder gleiche Hinweise wie auch im Arbatel. Bardon betont u.a. die Stellung der Selbsterkenntnis als Voraussetzung zur evokativen Arbeit (vgl. XXXIX.), wie auch die gründliche Vorbereitung des Magiers durch die Meditation (vgl. X.). Ebenso den Nutzen der vier Elemente, die bei ihm die Basis der Einweihung darstellen (XI.). Insofern der Magier sich aber durch magisch-mystische Übungen, vielleicht analog zur „Betrachtung Gottes“ entsprechend vorbereitet hat, und die höheren Stufen erklimmen konnte, also sein Geburtsrecht als „wahrer Magier“ beweisen konnte (vgl. XLII.),[5] so soll er laut Bardon Macht über die Sphären und ihre Wesen gewinnen. Diese Vorbereitung und Einweihung grenze den Magier auch vom Zauberer ab, der zwar die gleichen Techniken durchführen kann, ohne sie jedoch in ihrer Tiefe verstanden zu haben, da sie nur der erwachte Magier vollkommen erfassen könne (vgl. XLI.). Dennoch empfiehlt Bardon auch weiterhin Achtsamkeit im Umgang mit den Wesenheiten, um nicht unwissentlich ihr Diener zu werden. Das Ziel sei neben dem Erwachen, die Vollkommenheit des Magiers, die sein menschliches Geburtsrecht ist (vgl. (XXXV.). Die magischen Fähigkeiten, die Bardon in Aussicht stellt, decken sich in großem Maße mit den „Geheimnissen“ aus dem Arbatel (vgl. XXV.). Es lassen sich sicherlich noch mehr Parallelen finden, doch ist schon jetzt deutlich geworden, dass Bardon in die gleiche hermetische Tradition eingeordnet werden muss, wie auch der Autor des Arbatel. Sehr wahrscheinlich hat Bardon das Werk ebenfalls gekannt und es in die Konstruktion seines Systems mit einbezogen.
Viele moderne (hermetische[6]) Magier wie Rawn Clark, Stephen Flowers, Jason Newcomb oder Emil Stejnar benutzen das Konzept des „Erwachens“, um einen wichtigen Punkt auf dem Entwicklungsweg des Magiers zu beschreiben.[7] Darunter wird zumeist eine klare Selbsterkenntnis verstanden, eine uneingeschränkte Bewusstheit um das eigene Wesen, die den meisten Menschen, die in ihrer Alltagswelt gefangen sind abgeht (vgl. XLIV. Siehe das „Motto“). Dieses Bewusstsein um die eigenen Stärken und Schwächen ermögliche das Entfalten des eigenen Potentials, wodurch sich die magischen Fähigkeiten erst manifestieren können. Ebenso gehört dazu die Hellsichtigkeit, um andere, unsichtbare Wesen zu spüren und mit ihnen umgehen zu können. So führt das erste Buch Bardons dahin. Auch das ganze Werk von Stejnar dreht sich um das Erwachen auf den astralen und mentalen Ebenen, und wie es hergestellt werden kann.[8] In der okkulten Literatur geht diese Erfahrung häufig parallel mit dem Kontakt zum eigenen „Heiligen Schutzengel“. Flowers ist sogar der Ansicht, dass „wahre Magie“ vor dem Erwachen bzw. der Kenntnis um den eigenen Schutzengel nicht möglich ist, sondern man nur mit den Ritualen anderer geringe Resultate erzielt.[9] Das stellt ihn in eine Linie mit Bardons Magier-Zauberer-Konzept. Auch ein „Schlafender“ (wie ich sie zur Einfachheit benennen möchte) könne zwar gewisse Resultate erzielen, wird aber irgendwann in goeteia stagnieren (vgl. XLII).[10] Flowers bezieht sich dabei auf antike Texte, die aber zur Inspiration des Arbatel auf dem einen oder anderen Weg gedient zu haben scheinen. Damit könnte man die Traditionslinie noch weiter ausarbeiten, was an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich ist.
Alles in allem setzt sich das Arbatel m.E. deutlich von anderen zeitgenössischen Grimoirien des 16. Jh. ab. Die enge Verbindung zu vielen auch heute noch praktizierten Techniken, die man im Arbatel finden kann ist bemerkenswert, denn es finden sich sowohl Hinweise auf Selbsterkenntnis, Meditation und Mystik, wie auch auf Evokation, Thaumaturgie und Traumreisen in diesen wenigen Zeilen. Zum Teil nur angerissen und angedeutet, dem Kundigen aber klar ersichtlich. Ebenso die magischen Kräfte derer sich ein Magier bedienen kann und soll, sowie mögliche Erfolge finden sich so oder so ähnlich in den modernen Werken der Magie wieder. Ich würde es in seiner Importanz auf eine Stufe mit der Abramelin-Magie stellen, wenn auch weniger flamboyant.[11] Das Arbatel hat trotz seiner zeitgenössischen Auswüchse somit eine extrem enge Verbindung zum okkult-magischen Weltbild des 20. Jh., wodurch vielleicht auch seine Popularität in der Fraternitas Saturni begründet wurde. Inwieweit es praktisch in der FS bearbeitet wurde, lässt sich aber leider nicht mehr feststellen.
Nach dieser kurz gehaltenen Zusammenfassung und Analyse vom Inhalt des Buches Arbatel, sollen weitergehende Deutungen an dieser Stelle nicht unternommen werden, da der Schwerpunkt dieses Blogs nicht auf der philologisch-historischen Untersuchung liegt, sondern auf der praktischen Arbeit.
[1] Arbatel, XXIX.
[2] Sehr interessanter Abschnitt. Geht nahezu parallel zu: Franz Bardon, Die Praxis der magischen Evokation (2003), S. 119-123.
[3] Sind damit Magische Waffen oder andere Werkzeuge der Kunst gemeint?
[4] In Bezug auf diese beiden Abschnitte gibt wohl der Erfolg dem Magier recht: so er erfolgreich praktiziert, ist er wohl zur Magie geboren. Aber vielleicht spielt Anonymus hier auch auf das im nächsten Abschnitt behandelte „Erwachen“ an, um es von denjenigen abzuheben, die nur mit Techniken Erfolge zustande bringen!?
[5] Vgl. o. Anm. 24.
[6] Autoren, die klar einer anderen Tradition entstammen, wie z.B. dem Schamanismus oder Wicca, wurden von mir aufgrund mangelnder Vergleichbarkeit an dieser Stelle ausgeklammert. Ebenso das Werk Aleister Crowleys, der zwar deutlich hermetische Wurzeln hat, über den mir aber die Tiefe des Wissens fehlt, um ihn entsprechend zu bewerten.
[7] Das Konzept des „Erwachens“ ist sogar über die okkulten Lehren hinaus in die moderne Fantasykultur eingeflossen, am prominentesten in dem Rollenspiel „Magus: Die Erleuchtung“.
[8] V.a. Emil Stejnar, Die vier Elemente, Wien 2008.
[9] Stephen Flowers, Hermetic Magic – The Postmodern Magical Papyrus of Abaris, Boston 1995, S. 136.
[10] Flowers (1995), S. 101-103.
[11] Zur Abramelin-Magie besonders nützlich: Georg Dehn, Buch Abramelin, Worms 2001. Newcomb, J.A.; 21st Century Mage – Bring the Divine down to Earth, San Francisco 2002.